Theorie

Jugendbilder und Jugenddiskurse des 20. Jahrhunderts bis heute

  • Umfang: 24 Seiten
  • Autor*in: Böhnisch, Lothar
  • Erschienen in: Böhnisch, Plakolm Leonhard et al. (Hg.) 2015 – Jugend ermöglichen, S. 11–35
  • Mandelbaum Verlag, Wien, 2015
Der Sammelband ist inklusive dem Beitrag kostenpflichtig beim Verlag erhältlich.

Abstract

Lothar Böhnisch zeichnet prägende Stationen in der Geschichte von Jugend mit ihren gesellschaftsprägenden Bewegungen des 20. Jahrhunderts bis hin zu den soziologischen Diagnosen der Gegenwart, welche die Gefahr einer prekären Entwertung dieser Altersphase bezüglich ihrem generativen Entwicklungspotential konstatieren.
Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren der Wandervogel und die bündische Jugendbewegung als die historisch auffälligen Jugendbewegungen geprägt von einer kulturkritischen, antimodernen Haltung nach Auszug aus der Gesellschaft. Das Gemeinschaftserlebnis und gesellige Bezüge standen im Vordergrund und als eine frühe Form von peer to peer die Haltung „Jugend erzieht Jugend“. In Wien entstand die Jugendkulturbewegung, welche in der Gesellschaft wirken wollte, Kritik an autoritären Strukturen äußerte und das Recht auf eigene jugendliche Lebensgestaltung einforderte. Der Ort zur Auseinandersetzung über diese Themen waren die von Siegried Bernfeld unterstützten „Sprechsäle“, welche in vielen Großstädten eingerichtet wurden. Zeitgleich taucht der abwertende Begriff „Halbstarke“ in Hamburg auf, vorrangig verwendet für die proletarische Jugend. „Sie zu kontrollieren und von der Straße zu holen, war die Absicht der obrigkeitlich eingesetzten Jugendpflege, die mal als Vorläufer der offenen Jugendarbeit bezeichnen kann.“ (S.14) In den 20er Jahren wurde die Jugend zur „Freizeit-, Konsum- und Straßenjugend“ freigesetzt, es kam zu einer bedeutsamen funktionellen Aufwertung des öffentlichen Raumes: vor dem erstem Weltkrieg galt die Straße als gefährlicher Ort für Halbstarke, er erlangte immer mehr jugendkulturelle Bedeutung. Mit dem faschistischen Regime und der Funktionalisierung in der Hitlerjugend war das vorläufige Ende von Jugend gekommen durch die scheinbare Aufhebung des Generationenverhältnisses und Generationenkonflikts.
In den 50er-Jahren tauchte wieder die Bezeichnung „Halbstarke“ auf, eine von den USA kulturell geprägte konsumorientierte Jugend und das Bild der „skeptische Generation“: unpolitisch, weil politischen Aufforderungen gegenüber angepasst, pragmatisch und der Erwachsenenwelt vorauseilend angepasst. Dieses Bild drehte sich in den 60ern radikal, insbesondere die Student*innenbewegung sorgte für eine politische Generation mit Autonomieansprüchen und die Jugendzentrumsbewegung reklamierte eigene, selbstverwaltete Räume. Dementsprechend bauten sich Erwartungshaltungen an die politische Haltung der Jugend auf, welche zunehmend ab Mitte der 70er Jahre enttäuscht wurden: es geisterte das Bild der versorgten, entpolitisierten, um sich selbst kreisende Jugend durch die Gesellschaft. In den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts kam es zu einer weitergehenden Entwertung von Jugend als Hoffnungsträgerin der Zukunftsgestaltung: Jugend war nicht mehr Bühne der Gesellschaftspolitik, denn zukunftsträchtige Entwicklungen wurden zunehmend aus dem Bereich der Technik erwartet. Lernen wird zur lebenslangen Aufgabe, Bildung und Ökonomie werden entkoppelt und damit schwindet auch der grundsätzliche Bildungsoptimismus vorhergehender Jugendgenerationen, gleichzeitig wird wiederholt das öffentliche Bild von Jugend als Problem- und Risikogruppe ausgebaut. Jugend verliert weitergehend an gesellschaftlicher Relevanz durch den Druck der digitalsierten Ökonomie. Der Bildung wird die Funktion zugeschrieben, fertige Arbeitskräfte zu produzieren, aber nicht mehr im Sinne einer ganzheitlichen Bildung Produktivkraft für gesellschaftliche Entwicklung zu sein. „Sicher werden – im segmentierten Bildungssystem – immer noch bestimmte Gruppen von Jugendlichen gefördert; aber es sind nicht die jugendkulturell experimentellen, sondern die Jugendlichen, die sich Humankapital zeitig aneignen und sich in ihrem Habitus entsprechend früh an der Erwachsenengesellschaft orientieren.“ (S.29) Der Experimentierbeich ist inzwischen hochkapitalisiert und konsumtiv besetzt. Jugend gilt nicht mehr als Innovationsgeneration, sondern als Testfahrergeneration. Konsum ist die „soziale Gelatine“ im Dilemma der frühen soziokulturellen Selbständigkeit bei gleichzeitigem hohen Arbeits- bzw. Konkurrenzdruck. Von einer Verlagerung des Moratoriums ins Digitale kann nicht gesprochen werden. Jugend bildet sich im Digitalen ab, die digitale Welt wird nicht von Jugend kontrolliert, sie kann jedoch darüber kontrolliert werden. Mit der Verlagerung der Teilhabe vom Politischen ins technologisch Machbare geht auch die Verlagerung des politischen Bezugs überein: Jugend wird medienpolitisch, nicht in Bezug auf Arbeitsmarkt oder Zukunft diskutiert. Das unbefangene Experimentieren gilt als biografisch-soziales Risiko, viele Jugendliche entsprechen dem Mithalte- und Flexibilisierungsdruck bei gleichzeitiger Unterdrückung adoleszenter Entwicklungsdynamik. „Ein neues gesellschaftliches Modell von Jugend muss sich deshalb auf die Spannungen beziehen können, in die die entgrenzte Jugendphase heute gekommen ist.“ (S.33) Angesichts einer ambivalenten und risikoreichen Bewältigungslage Jugend benennt Lothar Böhnisch abschließend vier „Bewältigungsfallen“: die Übergangsfalle ins Erwachsenenalter, entstehend aus dem Erreichbarkeitsdruck der Erwerbsarbeit bei gleichzeitigem Fehlen von Anerkennungs- und Aneignungsräumen; die Bildungsfalle, resultierend aus einem privilegierenden und exkludierenden Zugangssystem; die Männlichkeitsfalle, bestehend aus der Schwierigkeit der konventionell erwerbsarbeitszentrierten Rolle von Männern bei gleichzeitig gestörter sozialer Integrationsperspektive durch Arbeit und die Segregationsfalle, welche die Verdrängung aus möglichen, relevanten Sozialräumen und den Rückzug in regressive Milieus benennt.

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