Theorie

Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend

Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik

  • Umfang: 228 Seiten
  • Autor*in: Giesecke, Hermann
  • Buch (Monographie)
  • Juventa, München, 1981

Abstract

In dieser Publikation beschreibt Hermann Giesecke die Entstehung und Entwicklung der Jugendbewegungen, der Jugendpflege und Jugendarbeit in Deutschland im Zeitraum von 1900 bis 1945. Die im Ausblick gezogenen Schlussfolgerungen weisen, obwohl vor 40 Jahren verfasst, teilweise erstaunlich aktuelle Bezüge auf. Der Autor hat die geschichtlichen Bezüge in dem Buch „Die Jugendarbeit“ fortgesetzt, in welchem ihre Entwicklung von 1945 bis etwa 1980 in der Bundesrepublik Deutschland behandelt wird.

Das erste Kapitel nähert sich unter der Überschrift „Autonomie gegen Integration: Jugendbewegung und Jugendpflege bis zum Ersten Weltkrieg“, ausgehend von der Jugend als Hoffnungsträger*in für gesellschaftliche Entwicklung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der Jugendbewegung Wandervogel, der proletarische Jugendbewegung und der entstehenden staatlich geförderten Jugendpflege. Das „Jugendbild“ der Jugendpflege war in dem Sinne konservativ, „daß es die veränderten Sozialisationsbedingungen und Sozialisationsprobleme der Arbeiterjugend und auch die neuen Impulse der Arbeiterjugendbewegung – die Tendenz zur beruflichen und politischen Emanzipation – nicht zu würdigen verstand, sondern auf veränderte Bedingungen mit dem Angebot der überlieferten Erziehungsleitbilder reagierte. Weder politisch noch pädagogisch bot dies eine aussichtsreiche Perspektive.“ (S.80) Damit folgte die entstehende Jugendpflege einer „negativen Pädagogik“, „deren Intention eher das Bewahren vor etwas war als das Eröffnen neuer Lebensmöglichkeiten.“ (S.76)

„Bindung gegen Autonomie“: Im zweiten Kapitel wird unter genannter Überschrift die Jugendarbeit in der Weimarer Republik fokussiert, der „Jugendkult“ in der Gesellschaft, das Erstarken der Jugendpflege gegenüber dem Abnehmen der Bedeutung der Jugendbewegungen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, die bündische Jugend, die Arbeiterjugendbewegung und das im Jahre 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. Staatlich zu fördernde Jugendarbeit wurde überwiegend als Prophylaxe verstanden, nicht zur Unterstützung eines emanzipatorischen Anliegens von Jugend, welches in seiner zeitgeschichtlichen Notwendigkeit gar nicht erkannt wurde, wie Giesecke schreibt. „Jugendarbeit war Jugendpflege geworden, veranstaltet von Erwachsenen für Jugendliche.“ (S.141) „ Der eigentliche Inhalt der Jugendpflege war also der vorbeugende Jugendschutz vor Kriminalität und Verwahrlosung. Dieser Begründungszusammenhang kann als eine Art von Topos der Jugendpflege bis in die Gegenwart hinein betrachtet werden.“ (S.152f.) „Sieht man auf den Geist der Erlasse, so hat die Jugendpflege offensichtlich nicht die Emanzipation der Jugend gefördert, sondern sie umgekehrt wieder stärker an die traditionellen Erziehungsinstanzen zu binden bzw. sie ersatz- oder ergänzungsweise in einem neuen Erziehungsfeld – eben der Jugendarbeit – zu integrieren versucht.“ (S.155)
Das dritte Kapitel beschreibt, wie es zur Gleichschaltung der Jugend unter dem Naziregime in Form der Einheitsorganisation „Hitler-Jugend“ kommen konnte.
Zusammenfassend beschreibt Hermannn Giesecke unter der Überschrift „Die schwierige Balance zwischen Integration, Bindung und Autonomie“ das historische Moment der Jugendbewegungen in ihrer Verbindung mit Jugendpflege und Jugendarbeit und gibt einen Ausblick. Die gesellschaftliche Ausgliederung des Jugendalters als einer besonderen sozialen Gruppe versteht er als „Grundproblem“, verbunden mit der sozialisatorischen Anforderung zwischen Integration und Emanzipation. „Kulturpubertät“ wird als ein relativ offener Lebens- und Handlungsspielraum zugemutet; dies ist in dieser Konstellation als ambivalent einzuschätzen. Emanzipation, verstanden auch als Freiwerden von den Determinanten der traditionellen familiären und gesellschaftlichen Erziehungsmächte, ist insofern ein Stück Autonomie und Eigenverantwortung. Andererseits bedeutet dies aber auch Verunsicherung, Ungeborgenheit und Vereinzelung. Diese Spannung muß ausbalanciert werden. „Das erwähnte Grundproblem der Spannung von Emanzipation und Geborgenheit und die Notwendigkeit, in einer angemessenen Balance zwischen beiden Polen Identität zu finden, ist also ein epochales, bis heute gültiges Grundproblem des Jugendalters.“ (S.213) Jugendarbeit schreibt Hermann Giesecke hierbei kompensatorische Funktion durch Ergänzung oder Korrektur zu. Giesecke stellt fest, dass „das ursprüngliche Konzept eines von äußeren Zwängen und Verantwortlichkeiten relativ ‚freien Jugendraumes‘ bzw. der ‚Kulturpubertät‘ oder des ‚psychosozialen Moratoriums‘ immer weniger durch die gesellschaftliche Realität gedeckt wird.“ (S.216) Insbesondere Verschulung und zunehmender Druck der Arbeitsgesellschaft in der Jugendphase spielen für diese Tendenz eine tragende Rolle. Giesecke schreibt weiterhin, dass „gegenwärtig der Jugend als sozialer Gruppe kaum noch eine Zukunftsbedeutung für die Gesellschaft zugeschrieben wird, an sie knüpft sich keine Hoffnung auf einen besseren Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.), wovon die Jugendbewegungen jedoch gelebt haben. Er stellt abschließend die Frage: Sind also Jugendbewegung und Jugendarbeit historisch begrenzte Phänomene?

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