Abstract
Kurzversion
Vier Versuche von den vier Autoren Müller, Kentler, Giesecke und Mollenhauer zu einer allgemeinen Theorie der Jugendarbeit, publiziert im Jahr 1964: ein Werk, welches in vielerlei Hinsicht theoretische Grundsteine gelegt hat, die bis heute Anziehungskraft und in gewissem Sinne eine elementare Gültigkeit haben. So sind – natürlich in damaliger Formulierung – unter anderem einige Prinzipien der OKJA schon zu erkennen. Alle Autoren sprechen sich für eine emanzipatorische Jugendarbeit aus, in Differenz zur Schule wird der jugendliche Autonomieanspruch als Kern der Bildung in der Jugendarbeit bestimmt. Die vier Beiträge ermöglichen einen reflektierten Abgleich zum heutigen Stand der Theorienbildung und auch bezüglich einzelner Perspektiven, so z.B. die Positionierung im Erziehungssystem, Eigenständigkeit der Jugendarbeit als sozialisatorische Instanz, Zusammenarbeit mit Schule, oder auch ein früher theoretischer Versuch einer umfassenden Feldanalyse für Arbeitsbedingungen in der Praxis. Ein unverzichtbares Werk und Meilenstein in Theorie und Geschichte der Jugendarbeit.
Da die Publikation vergriffen ist, folgt an dieser Stelle eine ausführlichere Zusammenfassung.
Die vier Versuche für eine allgemeine Theorie der Jugendarbeit
„Eine allgemeine Theorie der Jugendarbeit muss mindestens versuchen, gleichzeitig und erschöpfend Auskunft auf die Fragen zu geben, welche Personen und Personengruppen an dieser Jugendarbeit beteiligt sind, in welchen Einrichtungen und Maßnahmen sie stattfindet, was die Beteiligten tun, wenn sie Jugendarbeit machen, wie sie es tun, warum sie es tun und welche erkennbaren oder nachprüfbaren Wirkungen dabei auftreten." (S.12) Carl Wolfgang Müller geht in seinem Beitrag der Frage nach, was in der Jugendarbeit gemacht wird, wie es getan wird und wirft einen Blick auf die beteiligten Personen, Gruppen und Institutionen. Die „Abwesenheit des Fächerkanons“ wie in der Schule, jugendlicher Freiheitsdrang in der Freizeit und Spaß sieht er als grundlegende Merkmale an. Er nimmt die Gruppe als kommunikatives Feld in der Jugendarbeit in den Blick und unterscheidet hierbei zwischen informalen und formalen Gruppen, personenbezogenen Freundschaftsgruppen und sachbezogenen Interessensgruppen und harten und weichen Gruppen. Sein besonderes Interesse gilt dabei Lernprozessen, die auf solidarische Bezüge in Gruppen angewiesen sind. Der Begriff Stil, welcher als frühere Auslegung der Redewendung ‚the medium is the message‘ gesehen werden kann, gilt Müller als Qualitätsmaßstab in der Kommunikation. Jugendarbeit zeichnet sich durch institutionelle Offenheit und Unstetigkeit aus und „ist in der Formulierung eines allgemeinen Erziehungszieles ungewöhnlich zurückhaltend“ (S.35). Jugendarbeit ist für alle Jugendlichen in ihrer Freizeit da und geht von ihren Erfahrungen, Problemen und Interessen aus. „Diese Konzentration auf die Jugendlichen verlangt von den individuellen und kollektiven Trägern der Jugendarbeit einen besonderen Führungsstil. Das Ziel der Jugendarbeit ist es, diesen Stil auch auf die Kommunikation der Jugendlichen selbst zu übertragen [...] Es wird dazu beitragen können, ihr gesellschaftliches Handlungspotential zu vergrößern, indem es ihnen hilft, sich im gesellschaftlichen Leben zu engagieren.“ (S.36)
Klaus Mollenhauer sieht Mündigkeit als grundlegendes Prinzip einer pädagogischen Theorie von Jugendarbeit. Jugendarbeit zeichnet sich aus durch geringe Institutionalisierung, sie ist „sozialschöpferisch“ als Experimentierfeld für Möglichkeiten besseren Daseins und Vorbereitung für gesellschaftlichen Fortschritt und sie enthält „politischen Sinn“. Dieser politische Sinn – transferiert in den heutigen Begriffen politische Bildung und Demokratiebildung – versteht er als vorrangige Aufgabe der Jugendarbeit, welcher Familie und Schule nicht generieren kann. „Der freie Raum jugendlicher Gesellungen, Experimente, Widersprüche und Engagements gehört damit zur pädagogischen Verantwortung [...] Damit kann die Jugendarbeit als dasjenige Erziehungsfeld bezeichnet werden, in dem das hohe Maß an Soziabilität, an sozialer Beweglichkeit, Distanz und Kritikfähigkeit eingeübt werden kann, dessen die demokratische Gesellschaft zu ihrem Fortbestand wie zu ihrer Verbesserung bedarf.“ (S.93f.) Mollenhauer versucht, der Jugendarbeit einen Ort im Erziehungssystem zu geben und lokalisiert diesen nach Intensität der Erziehungsabsicht, nach Inhalten, gesellschaftlicher Funktion, Methoden und Altersstufen. Didaktische Eigentümlichkeit der Jugendarbeit ist, „daß die Inhalte erst im Prozeß der Kommunikation [entstehen],“ indem in der geselligen Auseinandersetzung „die Erfahrungswelt des Einzelnen zum Vorschein kommt und sich als Inhalt der Jugendarbeit prozessual artikuliert.“ (S.96) Mollenhauer sieht dabei Bildung außerhalb von Familie und Schule als eine zentrale Funktion an: „Nun unterscheidet es die Jugendarbeit wesentlich von allen anderen Erziehungseinrichtungen, daß in ihr die Jugend selbst am Hervorbringen sozialer Srukturen wie an deren Veränderung entscheidend beteiligt ist. Man könnte sogar noch entscheidender formulieren: sie, die Jugend allein, entscheidet hier über die Art der Sozialbeziehungen, die das pädagogische Feld strukturieren; jedenfalls hat die junge Generation in der Jugendarbeit die Möglichkeit. Daß diese Möglichkeit faktisch häufig nicht realisiert wird, könnte infolgedessen bedeuten, daß die soziale Bildungschance, die in der Jugendarbeit liegt, nicht wahrgenommen, ihr eigenständiger sozialer Bildungssinn verspielt wird.“ (S.97) Durch ihre Offenheit und Einbeziehung und Beteiligung der jungen Generation „bei der Gestaltung des pädagogischen Feldes und des Fehlens eines eindeutigen institutionellen Rahmens wie eines üblichen Kanons ist sie – im Hinblick auf die in ihr verwendeten und möglichen Methoden – das variantenreichste aller Erziehungsfelder.“ (S.97) Ein „Verfremdungseffekt" ist für Jugendarbeit konstitutiv, „denn sie kann zeigen, daß man alles auch anders sehen kann, anders angehen, anders beantworten kann. In der methodisch heterogenen Struktur der Jugendarbeit ist die Bildung eines kritischen Bewußtseins angelegt. [...] Gerade an dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig ihre Funktion im Hinblick auf Ergänzung, Kritik und Korrektur der Schule ist, deren Erziehungsarbeit sie voraussetzen muß, um sinnvoll tätig sein zu können, und die ihrerseits der Jugendarbeit bedarf, damit die institutionellen Beschränkungen, auf die sie angewiesen ist, nicht zur Beschränktheit des Bewußtseins werden.“ (S.98)
Freiwilligkeit der Teilnahme ist grundlegende Bedingung im Arbeitsfeld. Mit der Einführung eines jeglichen Zwangs disqualifiziert sich Jugendarbeit und das Ausblieben von Teilnehmer*innen macht sie überflüssig; eine hohe pädagogische Verpflichtung, da aufgrund ihrer freiwilligen Teilnahme „die Bildsamkeit der Teilnehmer vermutlich erheblich größer ist als in den unausweichlichen pädagogischen Einrichtungen“ (S.100). Es ist zu fragen, ob nicht gerade die Jugendarbeit die Chance hat, „etwas anderes zu sein, als die Verlängerung gesellschaftlicher Unterdrückung in der Erziehung. [...] Jugendarbeit wäre damit dasjenige Erziehungsfeld, in dem prinzipiell jedes Bedürfnis seine Befriedigung finden kann, unter der Voraussetzung, daß es sich kultivieren läßt.“ (S.101) Bedürfnisorientierung geht dabei mit Interessensorientierung Hand in Hand: „Gerade weil es in sich schon von pädagogischen Wert ist, ist die Jugendarbeit angehalten, das Interesse ihrer Teilnehmer rückhaltlos ernst zu nehmen und als den Inhalt ihrer Arbeit festzusetzen.“ Eine Vorwegnahme bzw. Kanonisierung durch eine mögliche Angebotsstruktur ist also möglichst gering zu halten. Als weitere entscheidende Faktoren benennt Mollenhauer Geselligkeit und Gruppenbezug; Freizeit, nicht nur in zeitlichem Sinne verstanden, sondern als „Zusammenhang von Konsumgewohnheiten und -inhalten“ (S.106); „politisches Klima“ im Sinne von politischen Rahmenbedingungen, in denen Jugendarbeit geschieht und soziale Konventionen. Mollenhauer begreift Jugendarbeit als „freien Raum“, welcher möglich wenig fremdbestimmt ist, womit Selbstregulation – in diesem Sinne auch Selbstbestimmung – zentrales Element wird: „Das Feld der Jugendarbeit ist ein Feld kommunikativer Selbstregulierungen.“ (S.108) Inhalte der Jugendarbeit sind die Erfahrungen der Jugendlichen, alle Methoden „sind durch die Konzentration auf den Jugendlichen gekennzeichnet, auf Form und Inhalt seiner Existenz und deren gesellschaftlichen Bedingungen.“ (ebd.) Mollenhauer schreibt zur Professionsrolle, dass der „Erzieher“ dementsprechend nicht mehr die Rolle der „erziehenden Person“ im traditionellen, pädagogischen Sozialverhältnis einnehmen kann, „sondern er ist allenfalls Beispiel, am ehesten ‚Dramaturg‘ des Erziehungsgeschehens.“ (ebd.) Als „Modalitäten“ der Jugendarbeit formuliert Mollenhauer erstens Geselligkeit; zweitens Übung, wobei die Gegenstände der Übung vornehmlich „Formen des sozialen Daseins [sind], die Einübung einer freien und anpassungsfähigen Soziabilität“ (S. 110); drittens ist Jugendarbeit Begleitung „insofern, als sie auf Bedürfnisse und Interessen antwortet, deren Befriedigung bzw. Realisierung zum Beispiel in der Schule versagt wird, sie tut dies insofern, als ihr Ausgangspunkt das Hineinwachsen des jungen Menschen in Kultur und Gesellschaft, sein eigenes Schicksal, und nicht ein vorformulierter Bildungsauftrag ist“ (S.111); viertens Beratung bezüglich aller Fragen der Lebensführung; Jugendarbeit ist fünftens Information, denn „der junge Mensch wird hier nicht nur sich selbst, seinesgleichen oder einem ‚erziehenden‘ Erwachsenen konfrontiert, sondern zugleich den Daten unserer Welt“ (S.112); sechstens: schließlich ist Jugendarbeit Aufklärung. Kritische Aufklärung benötigt kritische Distanz zu Herrschaftsverhältnissen und konstituiert sich in geselligen Bezügen: „Der Begriff der Geselligkeit ist für die Jugendarbeit unbrauchbar, wenn er dieses dialektische Moment der Aufklärung nicht enthält. [...] Geselligkeit geschieht als freies Gespräch der gebildeten, sich aufklärenden und aufgeklärten Bürger. [...] Daß politische Bildung überhaupt nicht anders als im Medium des Wortes vollzogen werden kann, ergibt sich daraus unmittelbar. Aufklärung impliziert Distanz, Reflexion und Kritik, Sie kann sich nur entfalten in einem Bewußtsein, das von den gesellschaftlichen Zwängen wenigstens vorübergehend freigestellt ist, in einem Bewußtsein, das den in der Erziehung sonst reproduzierten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen gegenübertreten kann, in einem freien, durch Geselligkeit strukturierten Erziehungsfeld. Kritische Aufklärung ist deshalb die vornehmste Aufgabe der Jugendarbeit.“ (S.113) Weitere grundlegende Begrifflichkeiten, welche Mollenhauer ausführt, sind das Engagement, das Team, die Aktion, Stil und Konflikt. Ein Begriff, welcher in der theoretischen Diskussion heutzutage allenfalls noch in jugendkulturellem Zusammenhang eine Rolle spielt, soll hier noch erwähnt werden: „Was etwa die Schule dem Lehrer zum Teil dadurch abnimmt, daß sie als Institution stilistisch vorgeprägt ist und nur eine geringe Variationsbreite der Möglichkeiten offenlässt [...], das hat die Jugendarbeit immer neu zu leisten: die kultivierte, die ästhetische Darstellung dessen, was junge Menschen heute sind, sein können und sein wollen, die ästhetische Darstellung von Geselligkeit als eines Stückes der gesellschaftlichen Wirklichkeit. [...] Stil als ein Grundbegriff der Jugendarbeit ist nur zu rechtfertigen, wenn er den Stilbruch, die Ironie, die Verfremdung enthält. [...] Das Nebeneinander verschiedener Stile und ihre Konkurrenz ist deshalb für die Jugendarbeit konstitutiv.“ (S.117) Inwiefern das Verhältnis der Generationen bzw. der Generationenkonflikt Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem typisch modernen Fortschrittsimpetus als zentrales, konstitutives Element für Jugendarbeit und gesellschaftliche Innovationskraft gesehen worden war, zeigt der Schluss von Mollenhauers Beitrag: „Es ist eine naive oder bösartige Unterstellung, daß es in unserer Gesellschaft keine Unterdrückung gebe. Unterdrückt wird gerade der fundamentale Konflikt, mit dem die junge Generation aufwächst: der Konflikt zwischen der ihr suggerierten, ihr versprochenen oder von ihr hervorgebrachten Vorstellung einer besseren, freieren, glücklicheren Möglichkeit des Lebens einerseits und dem, was sie als dessen Realität tagtäglich erfährt, andererseits. Diesen Konflikt, der in der Unterdrückung durch das unglückliche Bewußtsein schwelt, zum Bewußtsein zu bringen, die Unterdrückung zu mindern und das Glück zu vermehren, ist nicht nur eine unter anderen, sondern die vornehmste, die eigentlich humane Aufgabe der Jugendarbeit. Damit aber ist sie bereits mehr als bloß Erziehung oder Bildung: Realisierung einer kritischen Theorie, Moment des gesellschaftlichen Fortschritts.“(S.118)
Hermann Giesecke stellt seinem Beitrag zu einer Theorie der Jugendarbeit folgende Diagnose voran : „Seitdem Massenkommunikation sowie horizontale und vertikale Mobilität alle denkbaren pädagogischen Handlungssituationen von allen Punkten der Gesellschaft her beeinflußbar machen, gibt es keine isolierten pädagogischen Akte mehr.“ Pädagogische Theorie versucht unter diesen Bedingungen einen Orientierungszusammenhang zu ermöglichen, wobei er die Notwendigkeit einer Theorie der Jugendarbeit an vier Thesen aufzeigen möchte. Erstens: Theorie und Organisation. „In dem Augenblick, wo es überregionale Jugendverbände gibt, wo staatliche Jugendpflege sich auftut, wo gar ganze Finanzierungsprogramme eingerichtet werden wie im Bundesjugendplan, ist eine gewisse gemeinsame Theorie das einzige Bindemittel zwischen Menschen, die indirekt miteinander verkehren, sich aber vielleicht nie zu Gesicht bekommen.“ (S.130) Zweitens: Theorie und Planung. „Theorie der Jugendarbeit ist nötig, weil der kultur- und erziehungspolitische Frieden in Zukunft nur durch eine sorgfältige und überzeugende jugendpolitische Planung erhalten bleiben kann.“ (S.132) Drittens: Theorie und Spontaneität. „Je übermächtiger die Vergesellschaftung wird, um so weniger Raum bleibt für die Spontaneität der pädagogischen Arbeit selbst, um so mehr droht sie zu verschulen [...] Theorie der Jugendarbeit ist notwendig als Unterstützung der Spontaneität und Dynamik, die sich angesichts der organisatorischen und kulturpolitischen Umklammerung nicht mehr von selbst einstellt.“ (S.133) Viertens: Theorie als Traditionsersatz. „Wenn es nicht gelingt, Theorie anstelle von naiver Tradition zu setzen, droht Jugendarbeit dem Diktat der vordergründigen Zweck-Mittel-Magie zu verfallen: der blinden Anpassung [...] Theorie muß dafür sorgen, daß naive zur reflektierten Tradition wird.“ (S.136) Zur Bestimmung des Ortes der Jugendarbeit im Erziehungsfeld der Jugendlichen geht Giesecke grundsätzlich davon aus, dass „jede Wirklichkeit auch Erziehungswirklichkeit“ ist, „weil jede gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit an den Jugendlichen herangetragen werden kann und herangetragen wird.“ (S. 137) So muss man fragen, „was an erzieherischer Prägung ohne geplante Pädagogik geschieht, bevor man die Inhalte der pädagogischen Planung sinnvoll fixieren kann. Auf die Jugendarbeit angewendet heißt das zu fragen, was ohne sie schon geschieht, oder besser, was nicht geschieht, aber geschehen müßte.“ (S.139) Giesecke legt Wert auf eine hohe Eigenständigkeit des Arbeitsfeldes: „Der oft geäußerte Wunsch nach einer näheren Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendpflege hat wenig Überzeugungskraft. Er kommt weder der Selbstbesinnung der Schule noch der der Jugendarbeit zugute. Er versucht, was objektiv unmöglich ist, nämlich den notwendigen Verlust der Einheit der Erziehung auf institutionellem Wege wieder herzustellen. Dies wäre nur möglich in einer Gesellschaft, die einsinnige Vergesellschaftungen noch zuläßt. Daß dies nur noch mit Gewalt möglich ist, lehrt uns die DDR.“ (S.140) Als normativ festgesetzte Bedingungen der Jugendarbeit nennt Giesecke:
- Jugendarbeit ist Teil des Freizeitsystems. Sie unterliegt einer eigentümlichen ökonomischen Spannung bzw. einem Widerspruch: „Als Unternehmen unterliegen diese Institutionen den Strukturgesetzen des Marktes, als pädagogische Anstalt denen des geplanten Erziehungsfeldes" (S.141);
- Jugendarbeit basiert auf der Freiwilligkeit der Teilnahme, Mitbestimmung ist in ihr eingelagert. Jugendliche sollen als gleichberechtigte Partner*innen von den Erwachsenen ernst genommen werden;
- Jugendarbeit vergibt im allgemeinen keine Zeugnisse, Zertifikate oder sonstige Leistungsbenotungen. Sie ist von Machtarmut gekennzeichnet;
- Die Beziehungen zwischen Jugendlichen und Fachkräften sind „wenig fremdbestimmt, verhältnismäßig wenig von äußeren Ansprüchen diktiert“ (S.141), anstatt dessen mehrdeutig, widersprüchlich; je nach Situation und Anspruch werden für die Fachkraft das Einnehmen unterschiedlicher Rollen notwendig;
- Jugendarbeit ist eine unstete Erziehungsform, welche z.B. aufgrund von Fluktuation zumeist nicht mit weitreichenden Planungen rechnen kann, auch aufgrund dessen, weil sie sich ausschließlich auf die Jugendphase bezieht.
Zur Zielsetzung der Jugendarbeit: Giesecke sieht die pädagogische Kernfrage darin, „welchen spezifischen Beitrag die Jugendarbeit zum Erwachsenwerden leisten könne. Schon gar nicht verfügt die Jugendarbeit über jugendeigene Gegenstände. Inhalt der Arbeit ist vielmehr die Erwachsenenwelt, die ja heute fast vollständig die der Jugendlichen geworden ist. [...] Erwachsene können der Jugendgeneration nicht bestimmte Inhalte und Methoden liefern, damit diese sich in jugendeigener Weise kultivieren kann.“ (S.145) Aufgabe der Organisationen der Jugendarbeit ist, „für die pädagogische Provinz in ihren Bereichen einzutreten, und das heißt: für Experimente, für das Risiko, das jedem Lernen innewohnt, für die Kritik auch an dem, der das Geld gibt, für die Kritik an der eigenen Organisation.“ (S.146)
Giesecke schränkt zwar die folgende Betrachtung der Genese von Jugendarbeit damit ein, dass er in der Gesamtschau generalisierend nur in Idealtypen sprechen kann, folgt jedoch trotzdem dem Gedanken, dass der Entstehung eines pädagogischen Erziehungsfeldes Defizite zu Grunde liegen. Dabei benennt er:
- „Sozial folgenloses Meinen und Verhalten“: Lernen ist auf einen Freiraum, auf Übung und auf Fehlerfreundlichkeit angewiesen. Die Schule bietet dies nicht: „Ihre soziologische Stellung als Verteilerin sozialer Chancen, ihr damit verbundener Leistungsdruck schränken die Möglichkeit des Durchprobierens von Meinungen und Gedanken sehr erheblich ein.“ (S.148) Die Jugendarbeit ist als pädagogische Provinz sehr gut für diesen freien Lern- und Übungsraum geeignet, geht damit aber auch eigene Risiken ein: „Auch die Jugendarbeit steht in der Gefahr, den ihr noch möglichen gesellschaftlichen Spielraum aufzugeben. Die Leichtfertigkeit, mit der man etwa politisch unbequemen Jugendorganisationen die Mittel entzieht, wird nur noch durch die Leichtfertigkeit derjenigen übertroffen, die sich dem nicht solidarisch widersetzen. In solchen Maßnahmen ist das Gespür dafür verloren gegangen, daß die Souveränität des selbstandigen Urteilens und Denkens auch einer gewissen radikalen Phase bedarf.“ (S.148f.)
- „Soziale Geborgenheit“. Jugendliche suchen in der Jugendarbeit eine soziale Heimat und die Peergroup wurde auch in den 60er Jahren als wichtige Sozialisationsinstanz wahrgenommen: „Wir sehen jedenfalls, daß die Jugendlichen ihre persönlichen Probleme lieber mit Gleichaltrigen als mit den ihnen nahestehenden Erwachsenen erörtern.“ (S.149)
- „Nicht-intime Kommunikation“: Giesecke sieht das „Problem der jugendlichen Sozialerziehung nicht mehr darin, gemeinschaftsfähig, sondern gesellschaftsfähig zu machen. [...] Was den Jugendlichen immer offensichtlicher fehlt, ist das Lernen distantierter Sozialbeziehungen, die eben nur in entsprechenden Sozialsituationen gelernt werden können.“ (S.150) Im Gegensatz zu geschlossenen Gruppenkontexten plädiert er hier für ein Lernen in Distanz für Vielfältigkeit, für die Pluralität der Weltanschauungen und Werte.
- „Sinnvolle Aktivität“: Lernen und das Ausprobieren der eigenen Möglichkeiten ist auf einen Übungsraum angewiesen. Giesecke plädiert für ein Moratorium, in dem die eigenen Möglichkeiten getestet werden können, ohne gesellschaftlich mit bestimmten Ertragserwartungen von vornherein vereinnahmt zu sein.
- „Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Konflikten“: „Die herkömmlichen Erziehungsfelder führen nicht oder nicht genügend in die politische und kulturelle Wirklichkeit ein. Das hängt bei der Schule etwa mit den Bedingungen des Lehrplans und des Lehrgangs zusammen.“
- „Förderung spezifischer Begabungen und Interessen“: Giesecke plädiert hier indirekt für den Ausbau diesbezüglicher Möglichkeiten in der Jugendarbeit;
- „Zeitbedingte Defizite“: hierzu zählt Giesecke gesellschaftspolitische Herausforderungen wie „jugendliche Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsnot, Wohnraumnot und ähnliches“ (S.157).
Giesecke stellt fest, dass angesichts dieser Herausforderungen die Struktur der Jugendarbeit zwischen den dominanten Formen Jugendgruppe, Jugendverband und behördlicher Jugendpflege nicht mehr ausreichend erscheine und dass die Struktur angepasst werden sollte, jedoch: „Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir ausreichend begriffen haben, daß die Institutionen der Jugendarbeit Dienstfunktion für das jugendliche Lernen haben und nicht umgekehrt.“ (S.158) Giesecke spricht sich dafür aus, dass eine Theorie der Jugendarbeit dialektisch für Fachkräfte lehrbar gemacht werden sollte und die Fachkräfte aus ihren Erfahrungen der Praxis zur Weiterentwicklung der Theorie beitragen. Neben einer allgemeinen Theorie der Jugendarbeit benötigt es spezifische Theorien für einzelne Bereiche der Jugendarbeit, er nennt hierbei Jugendverbandsarbeit, Jugendfreizeitstättenarbeit, Jugendbildungsstättenarbeit und Jugendferienarbeit. Dabei spricht er sich in allen Bereichen für eine Professionalisierung betreffend Einrichtungen, ansprechender Ausstattung, welche mit der kommerziellen Konkurrenz mithalten kann und natürlich für entsprechendes Personal, gut bezahlt und hochqualifiziert, aus. Diesbezüglich bemerkt er zu den Jugendfreizeitstätten: „Es gelingt bislang selten, wirklich begabte Mitarbeiter in der Jugendarbeit zu halten. Wer aus Schritt und Tritt die Grenzen der Bedingungen seiner Arbeit spürt, wird sich sehr bald ein neues Feld suchen, das ihm die pädagogische Hochkonjunktur nach Belieben bietet.“ (S.170) Für die Verknüpfung von Theorie und Praxis schlägt Giesecke im Sinne einer (Politik-)Feldanalyse ein „Faktorenmodell“ vor, welches sieben Faktoren in ihrer Interdependenz betrachten und analysieren möchte: Intentionen und Erwartungen des Trägers, die öffentliche Meinung, Vorstellungen und Erwartungen des jeweiligen lokalen Nahmilieus; Vorstellungen, Erwartungen und Maßnahmen der Geldgeber*innen, Vorstellungen und Erwartungen der Jugendlichen und der Fachkräfte und die die zur Verfügung stehenden Mittel. Vier Forschungsebenen seien dazu notwendig: Empirische Wissenschaften, historische Reflexion, die Ebene des pädagogischen Experiments und die der pädagogischen Theoriebildung.
Giesecke erläutert abschließend zwei Schlussfolgerungen. Erstens die Notwendigkeit einer Lehrdidaktik von Jugendarbeit: „So brauchen wir im Sinne einer Didaktik der Fortbildung weniger eine Art Bildungskanon als vielmehr ein Denkmodell, das diesem Mitarbeiter ermöglicht, seine eigene Praxis zu bedenken“. Zweitens die Notwendigkeit wissenschaftlicher Studien: „Wir kennen nicht einmal die einfachsten statistischen Unterlagen über den Umfang der Jugendarbeit. Unsere Behauptungen über Sachverhalte der Jugendarbeit stammen fast ausschließlich aus eigenen mehrjährigen Beobachtungen, Erfahrungen und Gesprächen. Sie bedürfen ausnahmslos der Überprüfung durch wissenschaftlich exakte Methoden.“ (S.174)
Auch Helmut Kentler verstand damals Jugendarbeit als engagierte, kritische Aufklärung mit dem wesentlichen Moment der Freiheit, als Antwort auf die sozialpädagogische Verlegenheit der Moderne, als „Erziehungsinstitution“, auf welche die Industriegesellschaft angewiesen ist. Aufgrund Autoritäts- und Repressionsarmut ist Jugendarbeit prädestiniert für die Aufgaben Mündigkeit und Autonomie. Bildung hat hier vor allem die „Selbständigkeit des Einzelnen“ im Sinne. Jugendarbeit fordert damit die Gesellschaft heraus, sich zur Bildungsgesellschaft mit den Zielen der Steigerung der Freiheit und Mündigkeit zu konstituieren. Jugendliche stehen mitten im spannungsvollen Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit, Jugendarbeit ist Vermittlungsarbeit zwischen Utopie und Wirklichkeit, Jugendarbeit ist Bildung in Freiheit zur Freiheit.
Die Redaktion merkt an, dass Helmut Kentler aufgrund seiner späteren sexualpädagogischen und sexualpolitischen Positionen in starke Kritik geraten ist, seine praktische Tätigkeit wurde als aktive Förderung von Pädosexualität kritisiert.
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