Theorie

Grundbegriffe einer Jugendarbeit als „Lebensort“

Bedürftigkeit, Pädagogischer Bezug und Milieubildung

  • Umfang: 13 Seiten
  • Autor*in: Böhnisch, Lothar
  • Erschienen in: Böhnisch, Rudolph et al. (Hg.) 1998 – Jugendarbeit als Lebensort, S. 155–168
  • Juventa, Weinheim, 1998
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Abstract

Lothar Böhnisch fasst Bedürftigkeit, pädagogischer Bezug und Milieubildung als Grundbegriffe einer Jugendarbeit als „Lebensort“. Er stellt fest, dass die Jugendarbeit sich zu sehr auf die kollektive und jugendkulturelle Dimension konzentriert hat und die individuelle Dimension angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen umso wichtiger wird: „Die Bedeutung der individuellen leibseelischen Befindlichkeit als Medium des Antriebs und der Steuerung des Handelns Jugendlicher wird über die Biografisierung der Jugendphase stärker freigesetzt denn je. Es gibt nicht mehr die kollektiven Jugendmilieus, in denen das Jugendalter einen verläßlichen und sicheren Kontext, einen gesellschaftsabgewandten Entwicklungsraum (Moratorium) bildete. Die Jugendlichen sind auf sich gestellt und oftmals allein.“ (S.156) Die Pubertät und die in ihr enthaltene Triebdynamik bleibt der emotionale Kristallisationspunkt der Jugendphase. Durch die Biografisierung tritt diese verstärkt hervor und damit „ist auch die geschlechtstypische – männliche und weibliche – Identitätsdimension sozial folgenreicher freigesetzt als in traditionellen Entwicklungskontexten, in denen die Geschlechterrollen vorgegeben und die geschlechtsspezifischen Identitätsprobleme verdeckt waren.“ (S.156f.) Brüche, Ambivalenzen, Anomien und Verschiebungen zwischen Ansprüchen, welche ehemals dem Jugend- oder dem Erwachsenenalter zugeschrieben waren, Bildungsdruck und schon frühzeitige Anforderungen an die biografische Selbststeuerung hinterfragen das im 20. Jahrhundert entstandene soziologische Bild der im Jugendalter zu meisternden Entwicklungsaufgaben: „Bedürftigkeit ist so gesehen eine asymmetrische psychosoziale Konstellation. Sie bildet sich in der ungewissen Spannung zwischen triebbesetzter Entwicklungsdynamik (vereint mit jugendkultureller Unbefangenheit) und gesellschaftlichen Erwartungen an die Jugend (vermittelt über Entwicklungsaufgaben), die durch unübersichtliche soziale Bewältigungsprobleme destrukturiert und belastet werden.“ (S.158f.) Lothar Böhnisch geht anschließend diese Konstellation und ihre Widersprüche in folgenden Dimensionen durch: Körper; Geschlechterrollen; Peergroup und außerfamiliäre Beziehungen; emotionale Unabhängigkeit und Beziehung zu den Eltern; (Aus-)Bildung und Beruf; verantwortliches Handeln, Gemeinwohlorientierung, Aufbau einer humanistisch-ethischen Perspektive im sozialen Handeln; eigengestaltete Intimität und Sexualität und Entwicklung einer realistischen Zukunftsperspektive.
Jugendarbeit kann dieser Bedürftigkeit Raum geben und sie in die soziale Umwelt vermitteln. Ausgehend von Herman Nohls Begriff des Pädagogischen Bezugs, welcher einen spezifischem pädagogischem Aufforderungscharakter beinhaltet, da Jugendliche in ihrem Entwicklungsdrang einen noch nicht gekannten Erwachsenenstatus anstreben und dazu die eigenständige Jugendkultur sowie relevante Erwachsene gleichermaßen benötigen, sieht Böhnisch Fachkräfte als „gesuchte Erwachsene“ mit einem besonderen Profil: „Ein Pädagogischer Bezug kann sich also in der Jugendarbeit in dem Maße konstituieren, in dem der/die JugendarbeiterIn die Jungen und Mädchen in ihrem Jungsein und ihrem (noch ungerichteten) Erwachsenwerden über dieses Jungsein versteht und sich in diesem Verstehen als Erwachsene(r) mit eigenen persönlichen Angeboten, gleichzeitig aber auch mit in dieser Persönlichkeit lebensweltlich vermittelten Ansprüchen an die Jugendlichen darstellt. Den Jugendlichen muß die Möglichkeit gegeben sein, einen so weiten und offenen Zugang zur persönlichen Befindlichkeit der SozialarbeiterInnen zu haben, dass sie `an ihnen´ lernen können, daß sie ihnen nicht nur Resultate und Angebote vorsetzen und sich dahinter verstecken, sondern ihnen Deutungsspielräume – mit Offenheiten und Grenzen gleichermaßen – zur personalen Verständigung ermöglichen.“ (S.164) Hierzu wird ein entsprechender sozialer Rahmen benötigt: „Unter ‚Milieu‘ verstehen wir ein sozialwissenschaftliches Konstrukt, in dem die besondere Bedeutung persönlich überschaubarer, sozialräumlicher Gegenseitigkeits- und Bindungsstrukturen – als Rückhalte für soziale Orientierung und soziales Handeln – auf den Begriff gebracht ist.“ (S.165) Milieugeborgenheit und -zusammenhalt dürfen nicht auf Kosten Anderer, z.B. über Abwertung und Ausgrenzung, gehen, weswegen zwischen offenen, demokratischen und regressiven, autoritären Milieubezügen zu unterscheiden ist. „Im Jugendalter entwickelt sich Milieubildung vor allem in der Balance zwischen familialem Herkunftsmilieu und milieuformender Gleichaltrigengruppe.“ (S.166) Für eine gesunde Entwicklung gilt es, die soziale und gesellschaftliche Offenheit beizubehalten und sich schließenden Milieustrukturen entgegenzuwirken. Jugendarbeit hat die besten Voraussetzungen dafür, den Rückhalt offener, demokratischer Milieus zu bieten, in denen Bedürftigkeit konstruktiv in entsprechenden pädagogischen Bezügen aufgegriffen wird.

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