Theorie

Jugendarbeit als Lebensort

Jugendpädagogische Orientierungen zwischen Offenheit und Halt

  • Umfang: 288 Seiten
  • Herausgeber*in: Böhnisch, Lothar; Rudolph, Martin; Wolf, Barbara
  • Buch (Sammelwerk): Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung
  • Juventa, Weinheim, 1998
Die Publikation ist nur gebührenpflichtig zu beziehen.

Abstract

Kurzversion

Dieser Sammelband stellt ein Grundlagenwerk der Jugendarbeit in Deutschland aus den späten 90er Jahren dar.

Die Herausgeber*innen stellen im Vorwort die Entwicklung der Jugendarbeit als ambivalent dar, schwankend zwischen obrigkeitlicher Bevormundung und jugendkultureller Selbstorganisation. In dieser Befangenheit war es für die Jugendarbeit in ihrer runde 100jährigen Geschichte schwierig, eine empirisch-pädagogische Position zu finden. Jugendarbeit ist zur pädagogischen Herausforderung geworden, wobei zwei grundsätzliche Säulen einer Jugendarbeit als „Lebensort“ definiert werden: die Begleitung Jugendlicher in ihrer lebensalterstypischen Bedürftigkeit und in der Unterstützung ihrer selbständigen Suche nach sozialem Anschluß und Integration.

Zu den einzelnen Beiträgen:


Barbara Wolf führt in ihrem Beitrag „Die gegenwärtige Suche nach Konzepten in der Jugendarbeit“ aus, dass es in den 90er Jahren zu einer Flut an unterschiedlichsten (Teil-)Konzepten bezüglich einzelner Arbeitsthemen gekommen ist. „Diese instrumentellen Konzepte beantworten allerdings nicht die Fragen, wie sich Jugendarbeit im Ensemble der Jugendhilfe versteht und auch nicht, welchen Stellenwert die Jugendarbeit in der Sozialisation Jugendlicher erhält.“ (S.11) Sie stellt fest, dass vorrangig die Frage beantwortet werden muss, welche allgemeine Funktion die Jugendarbeit einnimmt, um in einem zweiten Schritt einzelne, instrumentelle Arbeitskonzepte entwickeln zu können. Erläutert werden Perspektiven einer Gesamtschau auf die genannte Fragestellung anhand folgender Paradigmen: der Sozialraumansatz (bezugnehmend auf Böhnisch, Münchmeier, Schumann, Weskamp, Deinet, Ortmann) und das Aneignungskonzept; Jugendarbeit zwischen Erziehung und Bildung (Müller, Scherr); das Individualisierungstheorem und die Pluralisierung der Lebenswelten als Grundlage pädagogischer Konsequenzen (Ferchhoff, Brenner); Beziehung als Kern der Jugendarbeit und darin eingelagert der pädagogische Bezug und Rolle der Erwachsenen (Hafeneger, Müller).

Im folgenden Beitrag „Der andere Blick auf die Geschichte“ geht Lothar Böhnisch auf Jugendarbeit als Ort der Identitätsfindung und der jugendgemäßen Suche nach sozialer Integration ein. Der pädagogische Aufforderungscharakter von Jugendarbeit erwächst „zum einen aus der Entwicklungsbefindlichkeit der Jugend in Dynamik und Konflikt von Pubertät und Erwachsenwerden und zum zweiten [...] aus der besonderen gesellschaftlichen Generations- und Integrationsproblematik des Jugendalters“ und „konstituiert somit einen pädagogischen Bezug [...], in dem beides - sowohl die Abgrenzung von, als auch die Teilhabe am Erwachsenwerden - möglich wird.“ (S.19) Es schließt sich eine historische Rückschau , beginnend mit der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an, anhand derer diese beiden pädagogischen Dimensionen - die jugendtypische Bedürftigkeit und die Perspektive der sozialen Integration - in ihrem geschichtlichen Wandel nachgezeichnet werden. Böhnisch konstatiert angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen in den 90er Jahren eine neue Bedürftigkeit der Jugend, welche die Jugendarbeit mit einer „traditionellen ‚äußeren‘ jugendkulturellen Orientierung“ nicht umfassend ihrem Auftrag gerecht werden lässt. Bezüglich der sozialintegrativen Bedeutung der Jugendarbeit stellt er im historischen Rückblick eine zunehmende Verlagerung der Integrationsfunktion von der staatlich-institutionellen auf die sozialisatorisch-lebensweltliche Dimension fest (S.29), wobei der Jugendarbeit der strukturelle Konflikt zwischen ordnungspolitischer und sozialisatorischer Integrationsfrage erhalten bleibt (S.35). Lothar Böhnisch definiert Jugendarbeit als Sozialisationsfeld zwischen Offenheit und Halt: die Ansprüche an eine eingeständige Lebensführung nehmen nicht nur mit zunehmendem Alter zu, sondern sind auch gesellschaftlich bedingt immens gestiegen, gleichzeitig sind Jugendliche auf sich selbst und auf das Soziale, auf Gleichaltrige und Erwachsene angewiesen, um in ihrer Entwicklung Halt finden zu können. Dies ist die Stärke der Jugendarbeit: „Je mehr Schule in die gesellschaftliche Offenheit der Bildungs- und Ausbildungskonkurrenz hineingezogen wird, desto notwendiger werden sozioemotionale Räume für Jugendliche, in denen sie diese Balance aus sich selbst heraus erfahren und damit experimentieren können.“ (S.36)

Wolfgang Schröer untermauert in seinem folgenden Beitrag „Offenheit und Halt“ mit dem Aufzeigen historischer Anfänge eine sozialisationstheoretische Begründung der Jugendpädagogik im genannten Paradigma der Publikation. Schröer greift den Gedanken von Karl Mennicke auf, welcher angesichts der sozialökonomischen Umwälzungen zur Wende vom 19. auf das 20 Jahrhundert von der „sozialpädagogischen Verlegenheit“ in der Moderne sprach. Diese bestehe darin, „daß die modernen Gesellschaften den Einzelnen einerseits freisetzen und andererseits nicht vermitteln, wozu sie frei sind, den freigesetzten Menschen keine sozialen Orte bieten, in denen man sich für ihre persönliche Freiheit interessiert.“ (S.40) Der Autor stellt fest, dass diese Herausforderung nach wie vor und gerade in Bezug auf Jugend und Jugendarbeit aktuell ist.

Karl Lenz richtet den soziologischen Blick auf die Biografisierung von Jugend: ausgehend von den Begriffen „reflexive Modernisierung“ und „zweite Moderne“ nach Giddens und Lash und dem Individualisierungstheorem nach Beck und Beck-Gernsheim kam es zu einem Brüchigwerden des Moratoriums der Jugendphase, einem Strukturwandel mit teilweise paradoxen Effekten wie der Ausdehnung der Jugendphase in mancherlei Hinsicht bei gleichzeitiger Verkürzung in mancherlei anderer Hinsicht. Die Bewältigung von Jugend wird biografisiert bzw. individualisiert. Jugendlichen wird eine höhere Kompetenz in ihrer Lebensführung zugestanden; in den Bereichen Freizeit, Konsum, Mode und Technik haben junge Menschen oftmals einen Wissensvorsprung gegenüber älteren Generationen. Aushandlung wird als dominierendes Prinzip in Familienkulturen genannt, die Peergroup hat als eigene Sozialisationsinstanz immens an Bedeutung gewonnen. Erfahrungsbereiche wie z.B. sexuelle Intimität, welche noch im Verständnis der ersten Moderne zu Privilegien der Erwachsenenwelt gehörten, haben sich Jugendlichen weitgehend erschlossen. Die Übernahme der Konsumentenrolle wird schon in der Kindheit eingenommen. Kinder und Jugendliche sind längst bei einer Reihe von Gütern und Dienstleistungen die wichtigsten Zielgruppen.
„Das Auseinanderklaffen einer weitgehend selbständigen Lebensführung und des Erlangens einer materiellen Selbstständigkeit ist ein herausstechendes Kennzeichen der sozialen Organisation der Jugendphase in der Gegenwart.“ (S.61) Nicht zuletzt die längere Verweildauer im Bildungssystem trägt bei gleichzeitiger Zunahme an Zertifikationsdruck dazu bei, dass neue Unsicherheiten und Problematiken entstehen. In einer Vielfalt konkurrierender Orientierungsmuster und Sinngebungsangebote sind Jugendliche zunehmend darauf angewiesen, frühzeitig aus sich selbst heraus Position zu beziehen, ohne die langfristigen Folgen ihres Handels in nachhaltigem Sinne abschätzen zu können. Jugendforschung als Biografie- und Lebenslaufforschung sollte kombinierte Forschungszugänge danach ausrichten, um unter diesen Bedingungen die entsprechenden Fragestellungen aufgreifen zu können. Abschließend geht der Autor auf den Konturenverlust der Jugendphase und der damit einhergehenden Fragestellung der Ab- und Eingrenzbarkeit des Forschungsinhalts. Eine Konsequenz aus dieser Unübersichtlichkeit im Lebenszeitregime kann die Diagnose einer neuen Lebensphase sein: die Lebensphase der Postadoleszenz zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Eine andere Konsequenz könnte sein, Lebensphasen weniger Aufmerksamkeit zu schenken als Lebensereignissen.

Thomas Drößler stellt Befunde aus Jugendstudien zur sozialisatorischen Thematik von Jugend zwischen Offenheit und Halt dar. Der Einbindung der Jugendlichen in formelle und informelle Beziehungsnetzwerke kommt dabei eine Schlüsselstellung zu: „Somit werden Beziehungsstrukturen, in die Jugendliche integriert sind bzw. in die sie sich selbst einbringen können zu strategischen biografischen Punkten [...]“. (S.75) Halt erscheint als ein „sehr komplexes Phänomen, welches Orientierungsmöglichkeiten, soziale Beziehungen, individuelle Bezugspunkte und jene Ressourcen umfaßt, die bei der täglichen Lebensbewältigung von Bedeutung sind.“ (S.76) Spielen Heimatort, Familie und Partner*in eine grundsätzliche Rolle, so werden Unterschiedlichkeiten zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen konstatiert: „Werden junge Menschen im Osten Deutschlands früher in die Selbständigkeit der Alltagsorganisation und -bewältigung entlassen als in Westdeutschland, so verliert für sie die Herkunftsfamilie als Quelle psychosozialer Beratung und Unterstützung langsamer und weniger an Bedeutung als für Gleichaltrige im Westen.“ (S.87) Nachfolgend werden weitere Unterschiede des Umgangs mit Offenheit und Halt zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen bezüglich Familie und Peergroup dargestellt. Der Autor stellt resümierend fest, dass es eine Stärke der Jugendarbeit ist, in ihrem „Hunger nach Erwachsenen“ Fachkräfte zur Verfügung zu stellen, die gerade nicht in den Rollen der Eltern oder Lehrer*innen sind und deswegen andere Orientierungsangebote, Rat und Unterstützung geben können. „In diesem Sinne kommt der Jugendarbeit als quasi vierte Sozialisationsinstanz neben Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe ein gewisser Stellenwert zu […] Die Herausforderung stellt sich im umfassenden Anspruch an die Person der JugendarbeiterInnen, nicht nur als professionelle Helfer, sondern als offene, ehrliche und greifbare Menschen: als Persönlichkeit für die Jugendlichen da zu sein, ihnen als Persönlichkeit, nicht als Pädagoge gegenüberzutreten." (S.94)

Ralf Bohnsack fokussiert Milieubildung in einer Verbindung von pädagogischem Prinzip und empirischem Phänomen. Unter Bezugnahme auf Karl Mannheim kann ein Generationenzusammenhang ein „konjunktiver Erfahrungsraum“ sein: ein bedeutsamer sozialer Zusammenhang, in dem kollektive Sinngehalte und Erfahrungen eingelagert sind. Dasselbe gilt für ein Milieu als konjunktiver Erfahrungsraum. Die in der Peergroup zu beobachtende Suche nach Milieuzugehörigkeit entfaltet ihre „Eigendynamik in einer aktionistischen Handlungspraxis“. (S.98) Diese steht in Zusammenhang mit der Episodenhaftigkeit von Jugendkriminalität, weswegen die vorliegende Untersuchung auf einer vergleichenden Analyse von gewalttätigen und nichtgewalttätigen Gruppen besteht: an den Beispielen von (Rock)Bands und deren ästhetischer Aktionismus, und Gruppen von Hooligans und deren „episodale Schicksalsgemeinschaft“ zeigt der Autor idealtypische Elemente von offener und regressiver bzw. fiktiver Milieubildung auf.

Liv Töpfer und Antje Schneider liefern in ihrem Beitrag „Techno – jeder tanzt für sich allein?“ eine detailreiche Studie zur Technokultur der 90er Jahre in Bezug auf das Partyformat Rave, Umgang mit Raum, Zeit und Kreativität, über den Umgang der Geschlechter in der Techno-Kultur, sozialräumlicher Aneignung, Selbstinszenierung, Zugehörigkeit und Identitätsbildung und resümieren: „Wie verhält sich die Erwachsenenwelt einer Bewegung gegenüber, die feiern und Spaß haben möchte? Sie sind nicht gegen das System, sie klagen es nicht an, sie provozieren nicht – sie tanzen. Drückt diese Ignoranz nicht schon wieder Provokation aus? Wie verhalten sich die Erwachsenen, die so gern jugendflott bleiben möchten? Was unternehmen die pädagogischen Institutionen? Geben sie nun Verhaltens- und Erziehungsanweisungen in das Internet ein? Jugend ist unberechenbar (geworden).“ (S.130)

Martin Rudolph schreibt unter dem bezeichnenden Titel „Bleibenkönnen“ über Jugendliche in ländlichen Regionen unter vier Gesichtspunkten: Allgemeinbildung/Ausbildung/Beruf, Entfernung, Kultur/Freizeit und soziale Beziehungen. Für ihn löst die Region als neu sich entwickelndes räumliches Sozialgebilde zwischen Dorf und Stadt den Stadt-Land-Gegensatz ab. „Damit wird der Regionalbezug zum Gradmesser der Entwicklung einer Jugendkultur, einer biografischen Perspektive, und als Ressource der Lebensbewältigung bei den Jugendlichen, also zum Maßstab möglichen Halts in der Region.“ (S.136) Über diese grundlegende Perspektive zeichnet er Unterschiede von Jugend in ihrem Regionalbezug in den westlichen und östlichen Bundesländern auf. „Zusammenfassend ergibt sich, daß Jugendliche in ländlichen Regionen der Gegenwart stark an ihrer Herkunftsregion orientiert sind, wenn diese sozialemotionalen Halt in Form von sozialer Integration in Gleichaltrigencliquen, Familie und Dorf bereitstellt. Neben den sozio-kulturellen Gelegenheitsstrukturen sind Partizipation und ‚faire‘ Konfliktregelung in der Region entscheidende Indikatoren für Bleibeorientierung. Die Bildungs- und Ausbildungssituation im ausgehenden 20. Jahrhundert übt jedoch einen gewaltigen Druck insbesondere auf Mädchen und junge Frauen aus, zumindest vorübergehend die ländliche Region zu verlassen. Die Bleibeorientierung scheint gegenwärtig jedoch so groß zu sein, daß mit erhöhter Lern- und Anpassungsbereitschaft versucht wird, auf die Veränderungen der Moderne zu reagieren. Familien, Freundschaften und Gleichaltrigencliquen werden dadurch zunehmend kompensatorische Funktionen übernehmen müssen, die häufig für diese überfordernden Charakter annehmen. Insofern erhalten regionenübergreifende sozio-kulturelle Gelegenheitsstrukturen wie die Jugendarbeit in ländlichen Regionen eine wichtige Integrationsfunktion. […] Flächendeckende plurale Angebote zu erhalten und zu schaffen, Szenen zu unterstützen und Mobilität zu ermöglichen sind die zentralen Forderungen an die Jugendarbeit.“ (S.150)

Lothar Böhnisch fasst Bedürftigkeit, pädagogischer Bezug und Milieubildung als Grundbegriffe einer Jugendarbeit als „Lebensort“. Er stellt fest, dass die Jugendarbeit sich zu sehr auf die kollektive und jugendkulturelle Dimension konzentriert hat und die individuelle Dimension angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen umso wichtiger wird: „Die Bedeutung der individuellen leibseelischen Befindlichkeit als Medium des Antriebs und der Steuerung des Handelns Jugendlicher wird über die Biografisierung der Jugendphase stärker freigesetzt denn je. Es gibt nicht mehr die kollektiven Jugendmilieus, in denen das Jugendalter einen verläßlichen und sicheren Kontext, einen gesellschaftsabgewandten Entwicklungsraum (Moratorium) bildete. Die Jugendlichen sind auf sich gestellt und oftmals allein.“ (S.156) Die Pubertät und die in ihr enthaltene Triebdynamik bleibt der emotionale Kristallisationspunkt der Jugendphase. Durch die Biografisierung tritt diese verstärkt hervor und damit „ist auch die geschlechtstypische – männliche und weibliche – Identitätsdimension sozial folgenreicher freigesetzt als in traditionellen Entwicklungskontexten, in denen die Geschlechterrollen vorgegeben und die geschlechtsspezifischen Identitätsprobleme verdeckt waren.“ (S.156f.) Brüche, Ambivalenzen, Anomien und Verschiebungen zwischen Ansprüchen, welche ehemals dem Jugend- oder dem Erwachsenenalter zugeschrieben waren, Bildungsdruck und schon frühzeitige Anforderungen an die biografische Selbststeuerung hinterfragen das im 20. Jahrhundert entstandene soziologische Bild der im Jugendalter zu meisternden Entwicklungsaufgaben: „Bedürftigkeit ist so gesehen eine asymmetrische psychosoziale Konstellation. Sie bildet sich in der ungewissen Spannung zwischen triebbesetzter Entwicklungsdynamik (vereint mit jugendkultureller Unbefangenheit) und gesellschaftlichen Erwartungen an die Jugend (vermittelt über Entwicklungsaufgaben), die durch unübersichtliche soziale Bewältigungsprobleme destrukturiert und belastet werden.“ (S.158f) Lothar Böhnisch geht anschließend diese Konstellation und ihre Widersprüche in folgenden Dimensionen durch: Körper; Geschlechterrollen; Peergroup und außerfamiliäre Beziehungen; emotionale Unabhängigkeit und Beziehung zu den Eltern; (Aus-)Bildung und Beruf; verantwortliches Handeln, Gemeinwohlorientierung, Aufbau einer humanistisch-ethischen Perspektive im sozialen Handeln; eigengestaltete Intimität und Sexualität und Entwicklung einer realistischen Zukunftsperspektive.
Jugendarbeit kann dieser Bedürftigkeit Raum geben und sie in die soziale Umwelt vermitteln. Ausgehend von Herman Nohls Begriff des Pädagogischen Bezugs, welcher einen spezifischem pädagogischem Aufforderungscharakter beinhaltet, da Jugendliche in ihrem Entwicklungsdrang einen noch nicht gekannten Erwachsenenstatus anstreben und dazu die eigenständige Jugendkultur sowie relevante Erwachsene gleichermaßen benötigen, sieht Böhnisch Fachkräfte als „gesuchte Erwachsene“ mit einem besonderen Profil: „Ein Pädagogischer Bezug kann sich also in der Jugendarbeit in dem Maße konstituieren, in dem der/die JugendarbeiterIn die Jungen und Mädchen in ihrem Jungsein und ihrem (noch ungerichteten) Erwachsenwerden über dieses Jungsein versteht und sich in diesem Verstehen als Erwachsene(r) mit eigenen persönlichen Angeboten, gleichzeitig aber auch mit in dieser Persönlichkeit lebensweltlich vermittelten Ansprüchen an die Jugendlichen darstellt. Den Jugendlichen muß die Möglichkeit gegeben sein, einen so weiten und offenen Zugang zur persönlichen Befindlichkeit der SozialarbeiterInnen zu haben, dass sie ‚an ihnen‘ lernen können, daß sie ihnen nicht nur Resultate und Angebote vorsetzen und sich dahinter verstecken, sondern ihnen Deutungsspielräume – mit Offenheiten und Grenzen gleichermaßen – zur personalen Verständigung ermöglichen.“ (S.164) Hierzu wird ein entsprechender sozialer Rahmen benötigt: „Unter ‚Milieu‘ verstehen wir ein sozialwissenschaftliches Konstrukt, in dem die besondere Bedeutung persönlich überschaubarer, sozialräumlicher Gegenseitigkeits- und Bindungsstrukturen – als Rückhalte für soziale Orientierung und soziales Handeln – auf den Begriff gebracht ist.“ (S.165) Milieugeborgenheit und -zusammenhalt dürfen nicht auf Kosten Anderer, z.B. über Abwertung und Ausgrenzung, gehen, weswegen zwischen offenen, demokratischen und regressiven, autoritären Milieubezügen zu unterscheiden ist. „Im Jugendalter entwickelt sich Milieubildung vor allem in der Balance zwischen familialem Herkunftsmilieu und milieuformender Gleichaltrigengruppe.“ (S.166) Für eine gesunde Entwicklung gilt es, die soziale und gesellschaftliche Offenheit beizubehalten und sich schließenden Milieustrukturen entgegenzuwirken. Jugendarbeit hat die besten Voraussetzungen dafür, den Rückhalt offener, demokratischer Milieus zu bieten, in denen Bedürftigkeit konstruktiv in entsprechenden pädagogischen Bezügen aufgegriffen wird.
 
Barbara Wolf geht in ihrem Beitrag „Kann Jugendarbeit Halt bieten?“ der Frage nach, was Jugendliche suchen, wenn sie die Angebote der Jugendarbeit nutzen. Der Milieubezug stellt in ihrem Kontext das Jugendhaus dar, wobei sie drei Analyseebenen unterscheidet: Zeit, Raum und emotionaler Bezug. Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung unterstreichen in mehrfacher Hinsicht, wie wichtig Jugendlichen generell die Gleichaltrigengruppe als Milieu ist, als bedeutende soziale und emotionale Ressource, als experimenteller sozialer Horizont und in Bezug auf Sicherheit und gleiche Wertvorstellungen. Es schließt sich ein Exkurs auf eine untersuchte Gruppe von 17 jungen Männern und drei jungen Frauen im Alter von 16 bis 22 Jahren an, welche als „Kameradschaft“ in der rechten Szene organisiert war. Der Autorin geht es darum, Konstitution und Funktionen von Gruppenstrukturen zu erforschen: „So wie Handeln Jugendlicher als Bewältigungshandeln verstanden wird und funktionale Äquivalente angeboten werden, sind auch Gruppenstrukturen danach zu untersuchen, inwieweit sie Manifestationen von Bewältigungsverhalten und Ausdruck der Suche nach sozialemotionalem Halt sind.“ (S.172)
Die Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung zeigen in verschiedenen Dimensionen auf, wie Fachkräfte von Jugendlichen gesuchte und von ihnen geschätzte Erwachsene sind; der pädagogische Bezug ist mithin gerade darin begründet, nicht Lehrer oder Elternteil zu sein, sondern in der Freizeit Jugendlichen als Ratgeber*in und in vielerlei anderer Hinsicht zur Verfügung zu stehen.
In der Dimension Zeit schließt sich eine Betrachtung vom Umgang Jugendlicher mit Zeit – insbesondere Gegenwartsbezug und Zukunftsorientierung – an mit entsprechenden Folgerungen bezüglich Öffnungszeiten von Jugendhäusern. In der Dimension Raum kann festgehalten werden, dass fortlaufende Sozialraumanalyse und Gemeinwesenarbeit feste Bestandteile der Jugendarbeit sind, da Interessen, Bedürfnisse und durchaus auch die darin enthaltenen politischen Gehalte nicht auf ein Jugendhaus beschränkt sind.  In einer abschließenden Aufzählung zeigt die Autorin auf, in welchen Dimensionen Jugendarbeit Jugendlichen sozialemotionalen Halt bieten kann.

Lothar Böhnisch geht im folgenden Beitrag auf sozial ausgegrenzte Jungen als Adressaten aufsuchender Jugendarbeit, hier verstanden als „Beziehungsanker“ und als „sozialisatorischer Haltepunkt“, ein: Er stellt allgemeine Charakteristika der Straßenkidskultur und der männlichen Sozialisation und Bedürftigkeit von Jungen dar, entsprechende familiäre Fluchtkonstellationen und mögliche Zugänge der Jugendarbeit zu Straßenjungen und ihren Cliquen.

Berith Möller zeigt anhand der Leitbegriffe Parteilichkeit, Geborgenheit und Selbstwert auf, wie Mädchenarbeit als Lebensort verstanden werden kann. Selbstbestimmung und Eigenständigkeit nehmen in einer individualisierten Gesellschaft einen hohen Stellenwert ein, Mädchen scheinen demgegenüber in der Entwicklung ihrer Individualität begrenzt zu sein: „Mädchen wird ein gesellschaftlicher Selbstbezug verwehrt. […] Demgegenüber stehen Mädchen vor einer zweifachen Identitätsanforderung: Auf der einen Seite wird ihnen noch immer der reproduktive, häusliche private Bereich als Zuständigkeits- und Aufgabenfeld zugeordnet. […] Auf der anderen Seite müssen, wollen und sollen sie sich im Sinne des allgemeinen, durch die männliche Normalbiografie geprägten Anspruchs als `autonome´, selbstverantwortliche Individuen entfalten.“ (S.196) Ausgehend von der Darstellung des gesellschaftlich produzierten Konflikts von Sittsamkeit und Sinnlichkeit zeigt die Autorin auf, wie Geborgenheit und Parteilichkeit für pädagogische Zugänge in der Mädchenarbeit sorgen können. In einem abschließenden Kapitel „Mädchenarbeit und die Falle der Nische“ koppelt die Autorin Ansichten aus dem Osten Deutschlands in Bezug auf den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung und Mädchenarbeit: Ausgangspunkt hierbei bleibt die „durchlebte und durchlittene Realität“ und im gesellschaftlichen Konstrukt der Zweigeschlechtlichkeit der geschlechtsspezifische Ansatz, um diese Realität pädagogisch bearbeitbar zu machen. „In diesem Kontext ist es unbedingt notwendig, sich gerade der in der weiblichen Sozialisation verorteten Ressourcen zu besinnen und diese zu stärken: Die Fähigkeit, sich in sozialen Netzwerken einzubinden, bzw. solche aufzubauen, die kreativen musischen Potentiale des eigenen Körpers, für sich selbst sorgen zu können etc. Es ist jedoch gleichermaßen zu bedenken, welche Chancen sich eröffnen, wenn die Blickrichtung geändert wird und Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden.“ (S.205f.)

Thomas Seifert schreibt über Verlässlichkeit, Gebrauchtwerden und Bindung in der Jugendarbeit. Verlässlichkeit im Alltag als wechselseitige Abhängigkeit lebensweltlicher und gesellschaftlicher Strukturkomponenten bedeutet individuelle Entlastung und Sicherheit. Jugendräume bieten eine solche Verlässlichkeit als Treffpunkt, Freizeit-, Bildungs- und Rückzugsort.
Ebenso wie der Verlässlichkeit des Raums kommt der Verlässlichkeit von Personen eine wichtige Bedeutung zu. „Auf dem gesellschaftlichen Hintergrund des heutigen gesellschaftlichen Strukturwandels, der von Jugendlichen die Notwendigkeit einer schlüssigen Lebensperspektive von der eigenen Person her abverlangt, ist die Dimension der personalen Verlässlichkeit als personale Orientierung bei Jugendlichen plausibel. Das Vertraute und Bekannte wird zu einem zentralen Orientierungspunkt für das eigene Leben der Jugendlichen.“ (S.209) Vertrauen ist eine Kategorie individueller psychosozialer Sicherheit, welche hier im Verhältnis Jugendarbeiter*in – Jugendliche*r eine zentrale Rolle spielt: Fachkräfte sollten nicht nur überschaubar und verlässlich in ihrem Handeln als auch ihrem Verhalten sein, sondern auch örtlich und zeitlich in einer beständigen Form erreichbar sein. Verlässlichkeit stellt damit eine pädagogische Bezugskategorie dar. Jugendarbeit ist in der besonderen Lage, Jugendlichen die Sicherheit der räumlichen, institutionellen und personalen Verlässlichkeit zur Verfügung zu stellen. Der Autor erläutert weitergehend Konsequenzen für die Jugendarbeit in einer zunehmend erwachsenenzentrierten Gesellschaft bezüglich des Gefühls vom Gebrauchtwerden und bezüglich Selbstwert. Der „Hunger nach Personen“ und die Suche nach Bindung resultiert nicht nur aus dem Entwicklungsdrang im Jugendalter heraus, sondern auch als „Antwort bzw. Reaktion Heranwachsender auf strukturelle Verwerfungen, die sowohl auf gesellschaftlicher als auch personaler Ebene stattfinden.“ (S.219) Freisetzung und Bindung kommen als Begriffe in der Jugendphase eine wichtige Bedeutung zu. Insbesondere bezüglich Jugendlicher in Ostdeutschland stellt Thomas Seifert fest: „Jugend in Ostdeutschland bedeutet demnach Freisetzung einerseits und verwehrte ‚Rückbindung‘ andererseits.“ (S.221) Erwachsenen kommt im Hinblick auf diese beiden polaren Begriffe personale Autorität zu. Jugendarbeit als Alltagsdialog und Alltagsarbeit erhält „einen besonderen Stellenwert, weil Jugendliche hier auf verfügbare und verlässliche Ansprechpartner stoßen und weil sie hier schließlich Personen finden, die das Nichtgebrauchtwerden Jugendlicher nicht einfach hinnehmen, sondern die ihnen im direkten personalen Austausch ein Gebrauchtwerden als Person zu kommen lassen.“ (S.224)

Karsten Fritz erörtert unter der Überschrift „Die Bilderwelt der Jugend“ die wichtige Bedeutung der Medien für Jugendliche und ihr Ausdrucksvermögen und die Möglichkeiten einer milieuorientierten Medienarbeit mit Jugendlichen anhand konkreter Filmprojekte in der Jugendarbeit und Interviewsequenzen mit Jugendlichen. Die sozialintegrative Funktion des Medialen erzeugt ein besonderes Moment der Einbindung: „‚Halt‘ heißt hier sich selbst erleben, sich selbst finden, sich allein oder mit anderen ausdrücken zu können.“ (S.234)

Wilfried Schubarth erörtert „Schule zwischen Offenheit und Halt“ im Kontext schulischer Sozialisation, die Veränderung von Schule infolge von Modernisierung und Individualisierung, das Erleben und die Bewältigung Jugendlicher von Schule und welche Folgerungen sich für die Schulentwicklung und eine schulbezogene Sozialarbeit ergeben.

Mechthild Wolff widment ihren Beitrag der Herausforderung, wie im pädagogischen Berufsalltag Halt gefunden werden kann. Dem Generalismus des Professionsbildes Jugendarbeiter*in entspricht eine lange Palette des beruflichen Tuns. Vielschichtige Dimensionen ihres Handelns, die Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlich relevanten Institutionen und Personen aus dem Umfeld Jugendlicher und ein sehr umfassendes Bild an sozialen bzw. personalen Kompetenzen werden fremd- oder selbstbestimmt gefordert (erläutert auf S.249f.) Das Argument der Allzuständigkeit der Fachkraft liegt nahe, es entsteht das Bild eines „homo universalis“ oder eines allgemeinen „Machbarkeitsmythos“. Es folgt eine Darstellung verschiedener Ansätze zur Generierung professionellen Wissens, u.a. Burkhard Müllers Ansatz zum multiperspektivischen Fallverstehen und Christian Niemeyers Ansatz des „Praktikers als Forscher.“ Beiden Ansätzen „geht es um die professionellen Erfordernisse, die pädagogisches Wissen, Verstehen, Deuten und Handeln ermöglichen.“ (S.257) Wer Jugendlichen Halt geben will oder stabile Beziehungen eingehen will, muß selbst Orte haben, an denen er diese Erfahrungen machen kann. Mechthild Wolff belegt dabei mit ausgewählten Interviewsequenzen ihre These: „Teamarbeit stellt für die Interviewten einen eigenen Ansatz dar, das Team selbst ist die Methode.“ (S.257) Sie zeigt auf, wie ein Team Gewähr leisten kann für professionelle Sicherheit durch fachlichen Austausch und Emotionalität, als Lernfeld für Kommunikation, zur Identitätsfindung, als Modell oder Vorbild für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und als fachliche Solidargemeinschaft und soziales Netzwerk. Abschließend geht sie ebenso auf Gefahren der Teamarbeit ein.

Der Band schließt mit einem Beitrag von Hans Thiersch mit dem Titel „Profession und Person: zur Berufsidentität der SozialpädagogInnen“. „Die Berufsidentität der Sozialpädagogin [...] ist ein heikler Balanceakt, in dem Distanz und Nähe, Reflexivität und Pragmatik, entschiedene Setzung und Offenheit, Vorgabe und Aushandeln, berufliche Verläßlichkeit und gewachsene Erfahrungen aufeinander bezogen werden müssen [...]" Hierfür müssen jedoch auch entsprechende Bedingungen des Handelns vorliegen. Nicht nur die Adressat*innen der Jugendarbeit benötigen Freiräume, sondern die Fachkräfte ebenso, um glaubwürdig wirken zu können: „Als Zeitgenossen unserer Zeit haben sie einen Anspruch auf die Gestaltbarkeit von Verhältnissen und auf die Erwartung von Selbständigkeit in ihren Verhältnissen.“ (S.268) Neben diesem sozialpolitischen Impetus und einer weitergehenden Erörterung sozialpädagogischer Professionalität in mehrdimensionaler Hinsicht schließt Hans Thiersch den Beitrag mit den Worten: „In der Vermittlung von Schwierigkeiten und Schönheiten erweist sich auch die Jugendarbeit als Abenteuer, Abenteuer als Wagnis verstanden, das im offenen und gegen vielfältige Widerstände gelebt werden will, als Abenteuer, das das Leben im Offenen riskiert, sich in allen Schwierigkeiten einläßt auf Herausforderungen, Erwartungen und Hoffnungen, das sich darin aber auch einläßt auf Handeln, auf Risiko des Handelns und Risiko der Schuld. Sozialpädagogik - so gesehen - ist ein Moment in der Abenteuerlichkeit des gewöhnlichen, humanen Lebens.“ (S.270)

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