Theorie

Subjektorientierte Jugendarbeit

Eine Einführung in die Grundlagen emanzipatorischer Jugendpädagogik

  • Umfang: 231 Seiten
  • Autor*in: Scherr, Albert
  • Buch (Monographie)
  • Juventa, Weinheim und München, 1997

Abstract

Diese Publikation stellt ein grundlagentheoretisches Programm für Jugendarbeit als kritisch-emanzipatorische Praxis dar, welche „auf das Ziel ausgerichtet ist, Heranwachsenden Bildungsprozesse zum Subjekt, d.h. Entwicklungsmöglichkeiten in Richtung auf eine selbstbewußte und selbstbestimmte Lebenspraxis zu eröffnen.“ (S.8) Jugendarbeit wird verortet in den Traditionen kritisch-emanzipatorischer Pädagogik und unterscheidet sich damit deutlich vom Bild einer Sozialen Arbeit als Reparaturinstanz, Hilfeinstanz oder gar Erziehung zur Anpassung. „Der Zuweisung von sicherheits- und ordnungspolitischen Aufträgen sowie eines Mandats der Erziehung zur Anpassung muß sich eine solche Jugendarbeit verweigern.“ (S.45)

Albert Scherr geht im Rahmen einer subjektorientierten Jugendarbeit von den Grundbegriffen Subjektivität, Subjektwerdung, Selbstachtung, Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Bildung aus. Subjektwerdung hat eine individuelle, biografische und eine soziale Dimension. „Sozialpädagogik und Jugendarbeit können als ein Versuch charakterisiert werden, in beide Dimensionen im Interesse der Verbesserung der Chancen zur Subjektwerdung einzugreifen“ (S.50), lebensgeschichtlich in den Phasen Kindheit und Jugend zur schrittweisen Entwicklung von Subjektivität, strukturell in Bezug auf soziale Ungleichheit und unterschiedlicher Verteilung selbstbestimmter und selbstbewußter Lebensgestaltung. Eine grundlegende Rolle in der Entwicklung von Subjektivität nimmt soziale Anerkennung ein: der Einzelne ist auf die Anerkennung durch bedeutsame Andere angewiesen. Jugend kann aufgrund der Entwicklungsbedürfnisse und aufgrund der in die Jugendphase gesellschaftlich eingelagerten Widersprüche als eine Lebensphase beschrieben werden, in der das Ringen um Anerkennung und Selbstachtung zentral ist. Dies steht in enger Beziehung mit Selbstbewußtsein als das menschliche Vermögen, sich selbst zum Gegenstand distanzierender Betrachtung zu machen. Selbstbewußtsein begründet somit Willensfreiheit. Selbstbestimmung als das Recht und die Fähigkeit, das eigene Leben bewußt zu gestalten, setzt nicht nur Selbstachtung und Selbstbewußtsein voraus, sondern auch die Ausstattung mit den erforderlichen Bedingungen in politischer, sozialer, kultureller und materieller Hinsicht. „Für solche Lernprozesse, in denen Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung entwickelt und entfaltet werden können, steht der Begriff der Bildung.“ (S.59) Subjektwerdung und Bildung verweisen damit in ihren Begriffen auf eine konvergente Zielsetzung: Subjektbildung.
Scherr tritt vor diesem Hintergrund für eine Jugendarbeit ein, welche als sozialpädagogische Instanz für alle Jugendliche offen ist. Sie soll aufgrund gesellschaftlicher Herausforderungen als Bildungsinstanz wirken, die Integration von politischer, kultureller und sozialer Bildung einerseits ermöglichen und andererseits einer Hilfeinstanz zur Lebensbewältigung sein.

„Die Jugend“ an sich gibt es nicht, sie ist ausdifferenziert in sozial ungleiche Jugenden, allerdings kann von Strukturmerkmalen der Lebensphase Jugend im Sinne sozialer Konstrukte gesprochen werden. Scherr benennt hier die schulische Konstitution von Jugend, die soziale Selbst- und Fremdzuschreibung sexuellen Vermögens und Begehrens und die Normierung angemessener jugendlicher Entwicklung wie z.B. im Rahmen des Konzepts von Entwicklungsaufgaben. Vor diesem Hintergrund legt Scherr besonderes Augenmerk auf die Differenzierungen zum einen in Jugendkonzepte und klassenbezogener Lebenslagen und geschlechtsspezifische Jugenden. Entgegen dem von den 90er Jahren bis heute bedeutsamen Individualisierungstheorem, welches Scherr dahingehend kritisiert, dass die Zusammenhänge zwischen Lebenslage, Lebensbewältigung und klassenspezifischer Einbettung bzw. Begrenzung durch soziale Zuschreibung von u.a. Bildungsberechtigungen zu wenig erkannt oder gar übergangen werden, setzt er auf auf das Konzept subjektiver Handlungskompetenz mit dementsprechenden Zielsetzungen der Jugendarbeit. Als Gegenpol zu den gesellschaftlich zugemuteten Ohnmachtserfahrungen sollte gerade die Jugendarbeit Erfahrungen der Kompetenz, eigener Stärken und Fähigkeiten bieten können.
„Eine Jugendarbeit, die Jugendlichen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu einem etwas selbstbewußteren und selbstbestimmteren Leben sowie zu einer nicht auf berufliche Qualifizierung beschränkten, vielfältigen Entwicklung ihrer Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen verhelfen will, ist darauf angewiesen, sich mit den spezifischen Widersprüchen, welche die Lebensphase Jugend insgesamt charakterisieren sowie mit den für klassen-, schicht- und milieuspezifische Jugenden spezifischen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Denn Subjektwerdung kann nicht als ein Programm postuliert werden, das von Pädagogen gegenüber Jugendlichen proklamiert und durchgesetzt wird. Vielmehr muß es darum gehen, an den widersprüchlichen Erfahrungen Jugendlicher anzusetzen, ihre Unzufriedenheit mit und ihr Leiden an ihren je konkreten Lebensbedingungen, ihre uneingelösten Bedürfnisse nach einem gelingenderen Leben sowie ihre in den Versprechungen des Warenkonsums und den Inszenierungen der Kulturindustrie aufgehenden Interessen aufzugreifen. Darüber hinaus kommt einer subjektorientierten Jugendarbeit die Aufgabe zu, Jugendliche im Prozeß der Suche nach ihnen angemessenen Lebensentwürfen zu begleiten und zu unterstützen.“ (S.138f.) Im Rahmen einer solchen pädagogischen Programmatik sind insbesondere folgende Faktoren bedeutsam:

  • Strukturen des sozialen Handelns, insbesondere wechselseitige Wertschätzung und Anerkennung;
  • soziale Beziehungen, die sich durch Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit auszeichnen;
  • die Erfahrung der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in kooperativen Kontexen, insbesondere in egalitären, demokratischen Entscheidungsstrukturen;
  • Erfahrungen der eigenen Stärken und Fähigkeiten als Gegenerfahrungen zu gesellschaftlich zugemuteten Ohmachtserfahrungen;
  • aktive Entfaltung eigener Fähigkeiten und Interessen; reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Lebenssituation.

Situationen zu ermöglichen und zu gewährleisten, „in denen Jugendliche sich als Subjekte erfahren können und als solche anerkannt werden, ist die genuine - sie von der Schule, kommerziellen Freizeitangeboten, aber auch der traditionellen Sozialarbeit unterscheidende - Chance der Jugendarbeit.“ (S.140)
Jugendbildungsarbeit versteht sich „als Ermöglichung emanzipatorischer Lernprozesse und grenzt sich - ebenso wie die Erwachsenenbildung - als Angebot freiwilligen unzensierten Lernens von der Zwangs- und Selektionsinstanz Schule ab.“

Im Rahmen der Professionalisierung der Jugendarbeit veranschlagt Scherr für die Praktiker*innen neben der „Fähigkeit etwa, reflektiert und gelassen mit sich selbst umzugehen“ (S.169), die Qualifizierung zur lokalen Jugendforschung mit entsprechender Methodenanwendung als selbstverständlicher Teil der Praxis und die Fähigkeit der reflexiven Auseinandersetzung mit Lebensentwürfen, institutionellen Rahmungen und Interaktionsmustern, normativen Grundlagen des eigenen Handelns und die Entwicklung von entsprechenden Konzeptionen als eine genuine Leistung pädagogischer Professionalität, welche weder von Theoretikern noch von Ehrenamtlichen getragen werden kann. Subjektorientierte Jugendarbeit ist dialogische Praxis mit einem mäeutischen Selbstverständnis; im Mittelpunkt steht die gemeinsame Erarbeitung einer Praxis mit Jugendlichen, ausgehend von ihren Stärken, Bedürfnissen und Interessen mit einem höchstmöglichen Maß an Partizipation und Eigenverantwortung. Jugendarbeit baut auf dialogischer Aushandlung auf und hat den Auftrag an die Jugendarbeiter*innen der politischen Einmischung und Einbringung ihrer lokalen oder regionalen Expertise. Differenzierte Kenntnisse über jugendliche Lebenslagen und das dazugehörende Wissen über Forschungsmethoden gehören damit zur Praxis der Jugendarbeit.

Neben weitergehenden Ausführungen zur Professionalität finden sich in dem Buch eine allgemeine Betrachtung zum Verhältnis von Theorie und Konzeption (siehe ebenso zu diesem Thema auch Scherr, Albert: Konzeptionen entwickeln. In: Deinet, Sturzenhecker (Hg.) 2005 – Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, S. 613–622) und Ausführungen zu Jugendkulturen und Identität, insbesondere bezugnehmend auf die Jugendkulturtheorie des Centre for Contemporary Cultural Studies.
Die Theorie subjektorientierter Jugendarbeit versteht sich als Grundprinzip unterschiedlicher konzeptioneller Ansätze der Jugendarbeit und als Argumentationsgrundlage für die Anerkennung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsort. Siehe auch Scherr, Albert: Subjektorientierte offene Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, Sturzenhecker (Hg.) 2013 – Handbuch offene Kinder- und Jugendarbeit, S. 297-310

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